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Infobrief September 2023

Diskussionsveranstaltung: „Inklusion ohne Profis?“

Beitrag von Dr. Anne-Katrin Karl, 1. Vorsitzende LV Hamburg

Der vds Landesverband Hamburg hat zu einer Diskussionsveranstaltung ‚Inklusion ohne Profis? – Weichenstellung für mehr Fachkräfte‘ am 24.04.2023 eingeladen. Ziel der Veranstaltung war es, multiperspektivisch aus den Institutionen die Lage zu skizzieren und über Lösungsansätze ins Gespräch zu kommen. Im Anschluss fand die ordentliche Mitgliederversammlung statt.

Als Diskutierende auf dem Podium begrüßte der Landesverband Prof. Dr. Sven Degenhardt und Prof. Dr. André Zimpel als Vertreter der Universität Hamburg, Herrn Peter Krampitz als Vertreter der BSB sowie Frau Alvez als Masterstudentin der Uni Hamburg. Aus dem Vorstand nahmen auf dem Podium teil Prof. Dr. Christine Schmalenbach (Uni Hamburg), Aaron Erfle (Masterstudent Uni Hamburg) sowie Birgit Saravas (LI, Fachseminarleitung). Mit dieser Besetzung waren Perspektiven der ersten und zweiten Ausbildungsphase sowie der Einstellung vertreten.

Der Einladung war ein großer Kreis von Gästen gefolgt, die sich als Plenum sehr aktiv in die Diskussion einbrachten. Es entstand ein Austausch, in dem vielfältige Sichtweisen auf die Auswirkungen des Fachkräftemangels sowie konstruktive Anregungen und Ideen zu einem veränderten Umgang zusammengetragen wurden:

  • Möglichkeiten zum Quer- und Seiteneinstieg werden erweitert durch niedrigschwellige Zugänge und ergänzt durch Qualifizierungsangebote. Es wird das Dilemma benannt zwischen unqualifizierten Kräften im Sinne zusätzlichen Personals auf der einen und qualitativ hochwertig ausgebildeten Fachkräften auf der anderen Seite.
  • Ausbildungskapazitäten wurden erhöht. Das Problem ist nicht die Kapazität der Plätze, sondern der Mangel an Bewerber:innen und an Absolvent:innen, was die Frage nach der Qualität und der Attraktivität aufwirft.
  • Es gibt einen Aufbaustudiengang für Sonderpädagogik an der Uni Hamburg, der kaum genutzt wird. Vorgeschlagen wird, Kolleg:innen als Schulleitung gezielt auf diese Option aufmerksam zu machen.
  • Die Abbrecherquote von Studierenden ist zu hoch. Ursachen dafür werden in der Erfahrung eines Praxisschocks sowie unzulänglicher gesellschaftlicher Anerkennung gesehen.
  • Praktiker:innen nehmen eine ‚unsichtbare Wand‘ wahr zwischen neu in die Praxis einsteigenden Studierenden in den Kernpraktika oder nach erfolgter zweiter Ausbildungsphase und der Realität in der Praxis.
  • Qualität (Uni) muss erhalten bleiben, um die Attraktivität und Akzeptanz der Profession der Sonderpädagogik zu halten. Nur durch Qualitätssicherung wird die Inklusion auch öffentlich d.h. gesellschaftlich Anerkennung und Akzeptanz erfahren.
  • Es bestehen unterschiedliche Ansichten über das (Selbst-) Verständnis der Universität als akademische Institution für Forschung und Wissenschaft oder als Ausbildungseinrichtung.
  • Das Unterrichtsfach sollte vielleicht nicht den Mittelpunkt der Debatte des Lehrkräftemangels darstellen, sondern die Kompetenz im erziehungswissenschaftlichen Bereich.
  • Vorgeschlagen wird die Verpflichtung sonderpädagogischer Inhalte für Studierende sämtlicher Lehrämter.
  • Die zentrale Stelle der Funktion der Förderkoordination braucht mehr systemischen Rückhalt, insbesondere Verankerung im Schulleitungsteam. Die Aufgabenbeschreibung sollte neben organisatorisch-koordinierenden Anteilen fachliche Anleitung beinhalten.
  • Die vielen Verwaltungstätigkeiten, die von Sonderpädagog:innen übernommen werden müssen, verursachen eine zusätzliche Mangellage der sonderpädagogischen Ressource, die tatsächlich am Kind ankommt. Der vds Hamburg setzt sich dafür ein, dass mehr der vorhandenen Ressource am Kind ankommt und die Qualität der Profession hochgehalten wird. Dazu gehört, dass administrative Tätigkeit abgebaut werden muss.

Wir bedanken uns an dieser Stelle nochmal sehr herzlich bei Frau Alvez, Herrn Krampitz, Herrn Prof. Zimpel und Herrn Prof. Degenhardt für die Teilnahme auf dem Podium!

Was multiprofessionelle Kooperation und Puffbohnen gemeinsam haben

Beitrag von Gabriele Reichert, Fachreferentin für Emotionale und soziale Entwicklung und Geschäftsführerin LV Hamburg

Anfang Mai fuhr ich zum fachlichen Highlight meines Jahres – dem Bundesreferatstreffen für emotionale und soziale Entwicklung. Diesmal kamen die Fachreferent:innen der Bundesländer in Erfurt zusammen. Wir waren Gäste der dortigen Juniorprofessorin Susanne Jurkowski, die nicht nur über das Phänomen der Schüchternheit, sondern auch über multiprofessionelle Kooperation forscht. Hier einige Gedanken aus Vortrag und Diskussion, die ich für meine Arbeit in Hamburg mitgenommen habe:

  • In multiprofessionellen Kooperationsbezügen muss ein klarer Rahmen zu Abläufen und Ressourcen gesteckt werden, damit die Akteur:innen der Kooperation Platz und Sicherheit zur Gestaltung haben. Die Festlegungen auf Strukturebene dürfen nicht zu weit in die Handlungsebene eingreifen. Die Handlungsebene darf gleichzeitig von der Strukturebene nicht zu viele Antworten für die konkrete Ausgestaltung erwarten, sondern muss vor allem mutig tätig werden.
  • Es werden verschiedene Formen von Kooperation beschrieben: Austausch, Arbeitsteilung und Ko-Konstruktion. Letztere ist die aufwändigste Form, in der man gemeinsam etwas erarbeitet (Gräsel, Fußangel & Pröbstel, Lehrkräfte zur Kooperation anregen – eine Aufgabe für Sisyphos? in ZfP 52 (2006)
  • Kooperation ist nur dann erfolgreich, wenn die Kooperierenden die Wahrnehmung haben, dass sie nützt. Der Faktor Zeit und die Möglichkeit zur Reflexion spielen dabei eine große Rolle.
  • Erfolgreiche Kooperationsprozesse beginnen mit einer Tit for Tat-Strategie. Der Spieltheorie entlehnt, beschreibt sie ein freundliches gegenseitiges „Anstupsen“. Tit for Tat besteht darin, beim ersten Zusammentreffen mit einem anderen Spieler zu kooperieren und in allen weiteren Runden dann dessen Verhalten aus der Runde davor zu spiegeln (Robert Axelrod: Die Evolution der Kooperation. 7. Auflage, Oldenburg, München 2009).

Wir trafen im Verlauf der Tagung Vertreterinnen der Praxis und Administration sowie Schulpsychologinnen aus Erfurt. Es ging um die Etablierung kooperativer Unterrichtsstile und Teamteaching in Schulen.

Das Ziel des Bundesreferates Emotionale und soziale Entwicklung ist die Organisation eines vds-Fachtages / Bundesfachkongresses zum Thema Multiprofessionalität. Weitere Arbeitsschritte dafür wurden festgelegt.

Der große Gewinn aus den jährlichen Treffen mit den Referatskolleg:innen sind die vielen Hinweise auf Literatur und erfolgreiche Konzepte. Es braucht in der Regel ein Jahr, bis man alle einmal gesichtet und ein wenig integriert hat.

Die vier, die mich in diesem Jahr am neugierigsten gemacht haben:

  1. Manfred Prior: MiniMax-Interventionen. 15 minimale Interventionen mit maximaler Wirkung.
  2. Hartmut Rosa, Wolfgang Endres: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert, 2. Aufl. Beltz 2016.
  3. Materialien von David Zimmermann aus dem Kompetenzzentrum „Flucht, Trauma und Behinderung im Kontext Schule“ in Berlin
  4. Film des Hessischen Rundfunks über Schulclownin Puntita (nicht mehr in der Mediathek)

Fachreferatstreffen sind Tage wie im Flug. Die über die Jahre gewachsenen menschlichen Bezüge, die vielfältigen Dialekte, das Erkunden des Ortes, an dem man sich trifft, die fachliche „Überlast“. Wir streifen durch das frühlingshafte Erfurt. Eine liebevoll restaurierte Altstadt mit vielen jungen Leuten. Freundlich und viel schöner als erwartet, sagen die, die noch nie hier waren. Die Stadt von Clueso und den berühmten Bratwürsten. Die Stadt mit einer bebauten Brücke länger als der Ponte Vecchio in Florenz. Abends beim Schlendern und Reden fallen die kleinen niedliche Bohnen aus Plüsch auf, die mit lachenden Gesichtern in den Schaufenstern hängen. Wer in Erfurt geboren wird, ist eine echte „Puffbohne“ und bekommt diese aus Plüsch zur Geburt geschenkt. Das steht im Zusammenhang mit einem Arme-Leute-Essen der Gegend und der jahrhundertealten Gartenbautradition. Am Ende soll der lokale Dialekt noch Erwähnung finden, denn der fehlte beim Treffen. Der Thüringer Landesverband hat aktuell leider keine Vertretung im Bundesreferat.  Viel über Multiprofessionalität und das unter „ridschdschen Buffbohnen“ – das war das Maiwochenende in Erfurt.

KALLE KOSMONAUT – ein Dokumentarfilm 2022

(Tine Kugler/ Günther Kurth)

Der Dokumentarfilm zeigt die Entwicklung des Jungen Kalle in einem Zeitraum von 10 Jahren.

Das Filmteam begleitet Kalle in seinem Alltag in Berlin Marzahn. Auch wenn Schule nicht das primäre Thema dieses Filmes ist, wird durch den Einblick in Kalles Entwicklung deutlich, dass in Deutschland soziale Ungleichheit immer noch die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen beeinflusst. Dies wirft u.a. die Frage auf, wie Schule auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder reagieren kann, damit eine Chancengleichheit für Bildungsabschlüsse und beruflichen Erfolg entsteht.

Die OECD von 2022 stellt fest, dass in Deutschland immer mehr Jugendliche ohne Schulabschluss und Ausbildung sind. Das Fazit der Studie ist, dass soziale Benachteiligung mehr in den Blick genommen werden muss, damit der soziale Hintergrund in Bezug auf die berufliche Ausbildung weniger Einfluss hat.

Auch die Iglu-Studie zur Lesefähigkeit von Viertklässlern zeigt, dass sozial privilegierte Kinder größere Chancen auf Bildungserfolg haben.

Der Film und beide Studien zeigen, dass im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit weiterhin Handlungsbedarf besteht. Für Bildungsadministration und  Schule ergibt sich daraus die Aufgabe, Lösungsansätze zu entwickeln, die ermöglichen, dass Bildungsbiographien positiv beeinflussbar sind und die Entwicklung sonderpädagogischer Förderbedarfe im Bereich LSE verhindert werden können.

Dazu kann der Film KALLE KOSMONAUT durchaus wertvolle Fragen aufwerfen. Wir sehen im Film, wie Deprivation und anregungsarme, isolierende Lebensbedingungen Entwicklungsmöglichkeiten für KALLE reduzieren und Benachteiligungen bedingen. Wir werden durch den Film darauf gestoßen, dass altbekannte Diskurse zum sonderpädagogischen Förderstatus oder dem Ressourcendilemma in Schulen zu kurz greifen. Stattdessen bedarf es einer akzeptierenden Sensitivität für besondere Lebenslagen und interdisziplinärer Handlungsansätze und Vernetzung im Sozialraum. Der Film KALLE KOSMONAUT hilft dabei, die hinter den Fachdebatten stehenden Menschen in Armutslagen und ihre Bedürfnisse anzuerkennen und ist deshalb sehr empfehlenswert

Bericht zur Jahreshauptversammlung

Beitrag von Aaron Erfle, Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit LV Hamburg

Am Anschluss an die Diskussionsveranstaltung „Inklusion ohne Profis“ fand die ordentliche Mitgliederversammlung statt.
Das vollständige Protokoll wird separat veröffentlicht, daher soll an dieser Stelle nur ein kleiner Einblick gegeben werden. Neben den formalen Punkten, wie der Kassenprüfung und der Entlastung des Vorstandes für das vergangene Geschäftsjahr, fanden Wahlen statt. Der Vorstand ermöglichte durch den Geschäftsbericht einen Einblick in seine Arbeit.
Das Referat Emotionale und soziale Entwicklung hat Zuwachs bekommen. Birgit Saravas, die bereits das Referat Pädagogik bei Krankheit leitet, unterstützt die Arbeit im Referat zusammen mit Gabriele Reichert. Herzlichen Glückwunsch!

Die Kassenprüferinnen wurden für das laufende Jahr gewählt. Wir danken Karin Limmer und Birgit Zeidler für ihr Engagement!
Leider bleiben die Referate Hören und Kommunikation, Sprache sowie Sehen weiterhin unbesetzt. Falls Sie Interesse an der Arbeit in einem dieser Bereiche haben, kontaktieren Sie uns gerne.
Der Geschäftsbericht war geprägt von Berichten über Vernetzungsarbeit, die Klausurtagung des Vorstandes, die Stellungnahme zu den aktuellen Bildungsplänen sowie z.B. die Begrüßung der neuen „Erstis“ an der Uni Hamburg.

Best of Inklusion – Interview mit Anke Schöttler, Entwicklerin der EiS-APP

Beitrag von Lukas Berger, Referat Lernen

Mit dieser Rubrik wollen wir das Spotlight auf Beispiele gelungener Inklusion richten. In dieser Juni-Ausgabe wollen wir Anke Schöttler vorstellen und mit ihr in den Austausch kommen.

Lukas: Moin Anke. Sommer, Wärme, Sonnenschein; ab zur nächsten Eisdiele, welche Sorte darf es sein?

Anke: Haselnuss und eine Einladung in unsere EiS-Diele: https://www.eis-app.de/eis-diele/

Lukas: Was ist ein Hackathon und wie hat solch einer dein Leben verändert?

Anke: Ein Hackathon ist ein Format aus der IT-Entwicklung. Der Begriff setzt sich zusammen aus hacken und Marathon. Das beschreibt es schon sehr gut: Es treffen sich Menschen, die sich drei Tage lang intensiv mit einem vorgegebenen Thema beschäftigen wollen. Sie entwickeln in der Zeit eine (meist) digitale Lösung für das gestellte Thema und präsentieren ihr Ergebnis dann vor einer Jury.
Ein Hackathon der ZEIT hat mein Leben vor sechs Jahren verändert. Es ging um die “Zukunft der Bildung”. Ich habe die Idee einer inklusiven Sprachlern-App eingebracht, ein großartiges Team für die Umsetzung gefunden und gemeinsam haben wir den Hackathon gewonnen. Seitdem entwickeln wir zusammen “Eure inklusive Sprachlern-App“, kurz die “EiS-App” stetig weiter.

Lukas: Was ist die EiS-App und was kann sie?

Anke: Die EiS-App ist ein barrierearmes Tool für die Unterstützte Kommunikation. Die App ist multimodal aufgebaut und sensibilisiert für Alternativen zur Lautsprache.

EiS richtet sich primär an Kinder und Lehrpersonen, die in inklusiven Settings gemeinsam lernen. Die App spricht unterschiedliche Kommunikationsbedürfnisse und Sinne an. Begriffe werden multimodal dargestellt: durch METACOM-Symbol, Wort, Audio und Gebärdenvideo.

Das Gebärden-Team besteht aus Kindern mit und ohne Behinderungen, die die Gebärden lautsprachunterstützend einsetzen. Es sind Kinder dabei, deren Muttersprache Deutsch ist, und Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, Mundsprecher*innen und Talker-Nutzende.

Bei der Entwicklung war uns wichtig, dass die Navigation in der App so einfach ist, dass auch Nutzer*innen mit anderen Lernmöglichkeiten (Selbstbezeichnung von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung) sich leicht zurechtfinden.

Das Design kommt bewusst ohne ablenkenden Schnickschnack wie Feenglitzer oder Einhornstaub aus. Es gibt keine Zugangsvoraussetzung für die Nutzung: weder Lese- noch Schreibkompetenz oder Gebärden-Vorkenntnisse sind notwendig.

Die EiS-App ist sowohl auf Android- als auch auf Apple-Geräten einsetzbar und nach initialem Download der Inhalte offline verfügbar.

Lukas: Was ist das Ziel hinter der EiS-App?

Anke: Wir wollen Begegnung schaffen und Kommunikationsbarrieren abbauen.

Digitale Geräte haben eine besondere Anziehungskraft auf Kinder. Wenn die Apps, die genutzt werden, barrierearm gestaltet sind, können alle Kinder teilhaben, egal welche Voraussetzungen sie mitbringen.

Die Gebärdendarsteller:innen der EiS-App können Rollenvorbilder für die Nutzer:innen sein. Sie können sich mit ihnen identifizieren. So wird ein Peer-to-Peer Empowerment ermöglicht und das soziale Umfeld für den Einsatz von Gebärden sensibilisiert.

Ein weiteres Ziel im EiS-Projekt ist es, unsere Zielgruppe von Anfang an partizipativ in den Entwicklungsprozess einzubeziehen. Die Kinder aus dem inklusiven Gebärden-Team der EiS-App sind auch die ersten Tester:innen für Weiterentwicklungen und werden als wichtige Feebackgeber:innen gehört und ernst genommen.

Lukas: Du legst großen Wert darauf, dass Kinder die Gebärden einspielen. Wie läuft so eine Aufnahme ab und wie gewinnst du diese wunderbaren Statistinnen und Statisten?

Anke: Ich würde nicht von Statist:innen sprechen. Die derzeit 16 Kinder aus dem Gebärden-Team der EiS-App sind das Herz und damit das wichtigste Modul der EiS-App.

Das Kern-Team der Gebärdendarsteller:innen ist bereits seit den ersten Aufnahmen im Herbst 2017 mit dabei. Das Team hat sich aus Mitschüler:innen meines Sohnes an einer inklusiven Grundschule in Hamburg ergeben.

Lasse ist quasi der Initiator der EiS-App. Er lebt mit Trisomie 21 und war damals in der zweiten Klasse. Er hatte gerade einen Talker bekommen. Außerdem hat seine Sonderpädagogin mit der gesamten Klasse einen Grundwortschatz an Gebärden gelernt, um die Lautsprache mit Gebärden zu begleiten und Lasse und seine Klassenkamerad:innen so in der Kommunikation miteinander zu unterstützen.

Seither ist das Gebärden-Team gewachsen. Es hat sich gezeigt, dass der Wunsch mit der EiS-App zur Nachahmung zu motivieren und einen Moment der Identifikation mit den Gebärdendarsteller:innen zu ermöglichen, in Erfüllung geht.

Abi, ein Mädchen aus Kiel, das ebenfalls mit Trisomie 21 lebt und EiS-App-Nutzerin erster Stunde ist, gehört mittlerweile selbst zum Gebärden-Team. Sie ist zum Rolemodel für ihre Mitschüler:innen geworden, die die App an ihrem Förderzentrum nutzen. Im Anschluss an Abis Dreharbeiten habe ich gleich zwei Video-Bewerbungen für den nächsten Dreh von ihren Klassenkamerad:innen bekommen.

Für das Entwickler:innen-Team der EiS-App sind die Gebärden-Drehs die schönsten Momente im gesamten Projekt. Wir Erwachsenen freuen uns immer mindestens so doll auf die Dreh-Wochenenden wie die Kinder.

Wie laufen die Aufnahmen ab? Luisa, die Grundschullehrerin im EiS-Team, definiert den Wortschatz, der aufgenommen werden soll. Ich überlege mir zusammen mit Susanne Held, der Gebärdensprachdolmetscherin, die das Coaching mit den Kindern beim Dreh macht, welches Wort zu welchem Kind passt. Wir richten uns dabei einerseits nach den Vorlieben der Kinder – was interessiert sie, was ist ihnen wichtig – und andererseits nach der Komplexität in der Ausführung der Gebärde.

Susanne wiederholt die Gebärden mit den Kindern so oft, bis sie sich sicher fühlen in der Ausführung. Dann geht’s ins Filmstudio vor den Greenscreen und die Kinder zeigen die Gebärde vor der Kamera. Manchmal geht das sehr schnell, wie z.B. wie Mohamed, unserem gehörlosen Muttersprachler im Team. Manchmal haben Kinder ihr ganz eigenes Drehbuch im Kopf und wollen nicht einzelne oder die gewünschten Gebärden zeigen, sondern all ihr Gebärden-Wissen auf einmal. Das kann dann eine Herausforderung im Schnitt werden.

Lukas: Neben der Ebene der Gebärde und der Schriftsprache bietet die App auch attraktive Piktogramme. Was steckt dahinter?

Anke: Wir nutzen die METACOM-Symbole von Annette Kitzinger. METACOM ist ein speziell für die Unterstützte Kommunikation gestaltetes Symbolsystem, das mittlerweile rund 17.000 Symbole umfasst. Es wird in Kitas und Schulen ebenso eingesetzt wie in Werkstätten und anderen Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderung.

METACOM Symbole sind besonders klar und leicht verständlich. Sie kommen im Basiswortschatz ganz und darüber hinaus weitgehend ohne abstrakte, erklärungsbedürftige Bildinhalte aus.

Wie die EiS-App wird auch METACOM ständig weiterentwickelt. Für künftige Updates nimmt Annette Kitzinger jederzeit Symbolwünsche (Begriffe) und Anregungen entgegen.


Lukas: Warum hast du dich für die Gebärden nach Kestner entschieden?

Anke: Im Austausch mit Expert:innen in Unterstützter Kommunikation haben wir zu Beginn des Projekts nach Standards gesucht, die Kinder von der Kita über die Grundschule bis zur weiterführenden Schule und ins Berufsleben begleiten.

In weiten Teilen Deutschlands sind dies METACOM-Symbole in Kombination mit Gebärden aus dem „Großen Wörterbuch der Deutschen Gebärdensprache“ von Karin Kestner.

Wir wollen mit der EiS-App eine Unterstützung für Übergänge bieten, um Kinder und ihre neuen Lernbegleiter:innen bei Wechseln in die nächste Bildungsinstitution die Kommunikation zu erleichtern.


Lukas: In welchen Bereichen wird deine App angewendet?

Anke: Von der Kita bis zur Arbeitsstelle, in der Familie und der Wohngruppe, am Bildungsort und in der Freizeit sowie in der Therapie (Logo-, Ergo-, Physio- und Kunsttherapie).

Ich würde mal sagen, die Zielgruppe ist 0 bis 99 Jahre alt.  Gebärden sind schon im Säuglingsalter eine Kommunikations-Unterstützung und auch die Großeltern nutzen die App in der Kommunikation mit Lasse.

Lukas: Wo siehst du Entwicklungsbedarf rund um die EiS- App?

Anke: Neben dem stetigen Weiterentwicklungsbedarf in der EiS-App, was Wartung, Wortschatz-Ausbau und weitere barrierearme Funktionen, die das Lernen unterstützen, angeht, ist ein dringender Entwicklungsbedarf die Finanzierung des Projekts selbst.

Die EiS-Team-Mitglieder arbeiten ehrenamtlich neben ihren eigentlichen Jobs als Lehrer*in (Luisa), Software-Entwickler mit eigener Agentur (Marcus), Marketing-Fachfrau im ZEIT Verlag (Saskia) und Leiter der Backend-Entwicklung von ZEIT Online (Ron).

Ich bin die einzige, die nach zweieinhalb Jahren ihren Job bei der Deutschen Presse-Agentur an den Nagel gehängt hat. Seitdem kümmere ich mich hauptamtlich um die EiS-App – als Projektmanagerin, Netzwerkerin, Verantwortliche für Kooperationen, Finanzierung und Marketing in Personalunion.

Dementsprechend stehen finanzielle Förderung und Arbeitskraft im Bereich Marketing, Entwicklung und Business Development sowie wissenschaftliche Begleitforschung ganz oben auf der EiS-Wunschliste.

Außerdem muss sich das Bildungssystem für Inklusion und digitale Unterstützer wie die EiS-App öffnen. Das ist eine ganz große Baustelle! Der Zugang zu Kitas und Schulen gestaltet sich schwierig. Jedes Mal müssen neu Budgets für digitale Lehrmittel, Zuständigkeiten für Geräteverwaltungen und zeitliche Ressourcen für die Implementierung von Unterstützter Kommunikation im Alltag geklärt und gefunden werden.

Lukas: Wo siehst du, aus deiner persönlichen Sicht, den dringendsten Handlungsbedarf in Bezug auf eine inklusive Gesellschaft?

Anke: Was die Gesellschaft angeht, so sehe ich dringenden Entwicklungsbedarf in der Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Kommunikation ist ein wesentlicher Faktor für Teilhabe an, aber auch für Teilhabe in der Gesellschaft.

Jeden Tag sehen, hören und lesen wir Nachrichten über fehlende Inklusion in Bildungsinstitutionen und den Fachkräftemangel. Viele behinderte Menschen wünschen sich einen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wenn die Strukturen allerdings nur für nichtbehinderte Menschen gemacht sind, schließen wir sie explizit aus.

Ich möchte Raul Krauthausen zitieren: “Auch nichtbehinderte Menschen haben das Recht, selbstbestimmt mit behinderten Menschen zusammenzuleben.”*

In dem Zitat steckt eigentlich alles drin – Begegnungen, Perspektivwechsel, Rechte, Selbstbestimmung und der Hinweis, dass auch Nichtbehinderten etwas entgeht, indem sie behinderte Menschen systematisch ausschließen.

Zum Beispiel, kreative Lösungen mit einer Welt umzugehen, die nicht für sie gemacht wurde. Viele Lösungen, die eigentlich Behinderungen überwinden helfen, kommen auch Menschen ohne Behinderungen zugute. Man denke an die elektrische Zahnbürste, Sprachassistenten wie Alexa oder Siri, Leichte Sprache in Formularen, Untertitel in Videos, … .

*Das Zitat stammt aus Raul Krauthausens (sehr lesenswerten!) Buch: Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.

Lukas: Herzlichen Dank für deine Zeit, dein unglaubliches Engagement für eine inklusivere Gesellschaft.

Hilfreiche Links:

https://www.eis-app.de/
https://www.metacom-symbole.de/
https://web.kestner.de/das-grosse-woerterbuch-der-dgs-version-3-einfuehrung/

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Anne-Katrin Karl